In der zweiten Nacht dort erlebt Karen etwas Gespenstisches: Sie wacht gegen Morgen auf und sieht,
wie ihr rechter Unterarm senkrecht emporragt, die Hand rüttelt auf und ab. Es ist wie ein krampfhaftes Winken, das sie nicht steuern kann. Hilflos liegt sie da, bis endlich der Arm aufs Bett zurücksinkt.

Victor liegt um diese Zeit noch in Narkose, sein gebrochener Kiefer ist operiert worden. Als er aufwacht, ruft er seine Frau an: "Wie geht´s dir?"
"Victor, weißt du ..." antwortet sie. Dann kommt nur noch ein Stöhnen.

Ich konnte nur sagen: "Victor, weißt Du...", ich war verzweifelt auf der Suche nach einem Wort. Eigentlich wollte ich sagen: "Victor, weißt Du, ich kann nicht sprechen!". Aber statt Worten fand ich nur gähnende Leere in meinem Gehirn.

Karens Sprache ist wieder weg, wie kurz nach dem Unfall. Victor, noch benommen von der Narkose, legt auf. Karen hört es klicken. Eine Krankenschwester nimmt ihr den Hörer aus der Hand und bereitet sie
zum Röntgen vor. Die Ärzte betäuben sie und spritzen ihr ein Kontrastmittel in die Halsschlagader, die das Hirn mit Blut versorgt. Auf dem Röntgenbild können sie sehen, was sie schon vermutet haben: Teile des Gehirns werden nicht mehr durchblutet. Die Folge: Die rechte Seite von Karens Körpers ist gelähmt - und sie kann nicht mehr sprechen.

Stunden später ruft ein Arzt aus Karens Station bei Victor an: "Ihre Frau hat in der vergangenen Nacht einen Schlaganfall erlitten." Victor will sofort zu ihr, aber die Ärzte lassen ihn nicht: "Bleiben Sie liegen! Sie sind frisch operiert !"

Früh am nächsten Morgen stiehlt Victor sich aus dem Bett und schleicht übers
Klinikgelände zu Karens Zimmer. Vor der Tür trifft er zufällig einen Arzt.
"Ihre Frau?", fragt der Arzt. Als Victor nickt, zeigt er ihm Röntgenbilder. Die rechte Hirnhälfte ist hell, auf der linken Seite sieht Victor große, schwarze Flecken. "Sehen Sie", sagt der Arzt, "zappenduster sieht
das aus. Die steht nie wieder auf."

Karen Smetacek ist damals 33 Jahre alt. Nur drei Monate vor ihrem Unfall hatte sie ihre erste Stelle angenommen: Als Lehrerin an einem Gymnasium in Neumünster bei Kiel. Schon als Kind war sie versessen
auf Sprache: Mit fünf schrieb sie im Sandkasten die ersten Buchstaben, als Neunjährige träumte sie davon, Dolmetscherin zu werden. Schließlich studierte sie Sprachwissenschaft an der Kieler Universität, wurde später Lehrerin für Englisch und Französisch und nahm nebenbei auch noch Kurse in Hindi, Victors
Muttersprache.

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Bilder und Text mit freundlicher Genehmigung
von Readers Digest

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